Birgid Becker:
Während Sie das jetzt sagen und Ihrerseits auf die Kraft der Argumente setzen, räumen Sie doch zugleich ein, dass diese Kraft sehr begrenzt ist und vielleicht schwach gegenüber Argumenten, die viel plumper und eindimensionaler daherkommen.
Carlo Strenger:
Ja, gerade als Psychoanalytiker, der auch evolutionstheoretisch denkt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit unseren Cousins, den Schimpansen, 98 Prozent unseres genetischen Grundmaterials gemeinsam haben. Und wenn zwei Gruppen von Schimpansen aufeinandertreffen, dann geht eine Schlacht los und die gewinnende Gruppe, da töten die Männchen alle anderen Männchen, also von der anderen Gruppe, alle kleinen Kinder, nehmen die Weibchen, um sie neu zu befruchten und zu besamen. Diese Grundangst vor dem anderen ist etwas, was in unserer Genetik drinsteckt.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Toleranz, Weltverständnis, das in Betracht nehmen von großen Zusammenhängen, das ist etwas, was uns nicht angeboren ist. Das ist etwas, was wir nur durch ein hartes zivilisatorisches Training uns aneignen können. Das hat man früher im Deutschen die humanistische Bildung genannt; ich mag da den englischen Ausdruck liberal education, den ich wörtlich übersetzen würde als Erziehung zur Freiheit.
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