Reinhardt: Ich bin vollkommen einverstanden, ich würde allerdings einiges hinzufügen: Luther ist der größte Neuschöpfer von Schimpfworten, von Hassbezeichnungen und Invektiven und Polemiken in der deutschen Sprache. Er hat geradezu Hasskaskaden am Ende aneinandergefügt. Seine letzte Schrift gegen das Papsttum von 1545 ist, glaube ich, bis heute in dieser Hinsicht unübertroffen, und er kennt keine Schamgrenze. Das muss man auch einmal aussprechen. Er schreibt und lässt illustrieren wüste Pamphlete gegen das "Papsttum, vom Teufel gestiftet", Missgeburten – also so sagte man damals sehr unkorrekt –, Mischwesen aus Tier und Mensch, die aus dem Tiber gezogen wurden, und die Gleichnisse des Papstes. In Wittenberg wird eine Flut von Flugblättern hergestellt, in denen äußerst unappetitliche Szene zu sehen. Päpsten und Kardinälen werden die Zungen herausgerissen, sie werden in Öl gesotten und gehängt und so weiter. Luther zieht alle Register vom hochkomplizierten theologischen Traktat für Eingeweihte bis hin zu dem, was wir heute wohl, ja, Trivial- oder Schundliteratur nennen würden.
Weber: Aber warum hat Rom nicht auf dieser Ebene geantwortet?
Reinhardt: Das ist die große Frage, die auch die römischen Diplomaten während dieser Wendejahre umtreibt. Der intellektuell herausstechendste und auch selber mediengewandteste von ihnen, Aleandro, versucht es, so zu erklären: Unsere Herren Humanisten schreiben über die Liebschaften von Aphrodite und Mars, aber sie lassen sich nicht dazu herab, fürs Volk zu schreiben. Wir müssen versuchen, auch volkstümlich zu werden. Wir müssen das, was Luther kann – und Aleandro gesteht das zähneknirschend zu –, der Barbar Luther hat das Talent, dem Volk nach dem Mund zu reden, wie das Luther für sich auch in Anspruch genommen hat. Unsere Humanisten sind zu elitär, sie schreiben elegantes Latein. Wir müssen sie dazu bringen, in diese Arena einzutreten und Luther zu entgegen, aber es ist nicht gelungen. Es gibt Gegenschriften, aber die haben bei Weitem nicht den Ausstrahlungsradius und die Massenwirkung Luthers. Also der deutsche Barbar, rückständig in den Augen Roms und der römischen Humanisten, entdeckt neue Medienwelten. Das kommt tatsächlich für Rom sehr überraschend.
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